Die große Transformation

Der notwendige Strukturwandel in Produktion, Lebensweise und Konsum

Ein Text von Detlef Bimboes und Karl Otto Henseling (November 2009)

Auf der Weltklimakonferenz der UN im Dezember 2009 in Kopenhagen geht es um den Erhalt des Weltklimasystems, das bekanntlich durch eine Erderwärmung von mehr als zwei Grad dramatisch (und sehr kostspielig) aus den Fugen zu geraten droht. Im Vorfeld dieser Konferenz wird vor allem über Ziele und über die Finanzierung, genauer den Finanzausgleich zwischen armen und reichen Ländern gestritten. Das sind zweifellos wichtige Fragen. Im Dunkeln bleibt dabei weitgehend die Frage, auf welchen konkreten Wegen die notwendige Umgestaltung der globalen Wirtschaft zur Rettung des Weltklimas – und des Erhalts anderer natürlicher Lebensgrundlagen – erfolgen soll. Bundeskanzlerin Merkel warb, als sie noch als „Klimakanzlerin“ auftrat, für die „Große Transformation“, die sie im Oktober 2007 zusammen mit Nobelpreisträgern und anderen Honoratioren im „Potsdam-Memorandum“ forderte. Dabei ist eine große Transformation nötiger denn je. Nur wird sie mit einer FDP, die noch systematischer als die CDU darauf drängt, staatliche Gestaltungsspielräume zu verkleinern, in immer weitere Ferne rücken.

Es ist ein Irrtum zu meinen, man könne heutzutage wegen angeblich viel wichtigerer ökonomischer Krisenphänomene die Umwelt- und Ressourcenkrise in der politischen Agenda in den Hintergrund drängen und in den alten Trott einer am herkömmlichen Wachstum orientierten Wirtschaftspolitik zurück fallen. Im Gegenteil: Kurzsichtige Aktionen zur Minderung von Symptomen der Finanz- und Wirtschaftskrise drohen die Umwelt- und Ressourcenkrise zu verstärken. Alleine die durch die Schäden fortschreitenden Klimawandels verursachten Kosten übersteigen bei einem ungebremsten „weiter so“ die monetären Wachstumsraten. Ein langfristig krisensicheres Finanz- und Wirtschaftssystem kann nur erreicht werden, wenn die Krise als Chance genutzt wird, den Übergang vom fossilen Zeitalter zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise aktiv zu gestalten. In der nun begonnenen Legislaturperiode wird es für die Opposition darauf ankommen, eine weitere Einengung staatlicher Handlungsspielräume zu verhindern und neue politische Gestaltungsmöglichkeiten auf den verschiedenen Ebenen zu erkämpfen. Ein breiter – ein ökologischer, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, ökonomischer und politischer - Kurswechsel ist überfällig.

Auf die von zahlreichen Mahnern wohlbegründet geforderte Notwendigkeit nachhaltigen Wirtschaftens reagierten Politik, Gesellschaft und Wirtschaft bisher mit zwar notwendigen aber bei weitem nicht hinreichenden Kurskorrekturen. Diese Kurskorrekturen fanden und finden ihre Grenzen dort, wo sie auf mächtige Beharrungskräfte in Wirtschaft und Finanzwelt stoßen. Konsequentes Handeln wird vielfach durch einen Aktionismus ersetzt, der durch ein lebhaftes „Greenwashing“ seitens einflussreicherer PR-Abteilungen begleitet wird. Dadurch ist das Bewusstsein von der erforderlichen aber unbequemen Umorientierung in den Hintergrund gedrängt worden. Oder schärfer ausgedrückt: Wir werden geblendet und wir lassen uns blenden, damit wir die mitunter schmerzhaften Notwendigkeiten nicht erkennen. Was ich nicht sehe, gibt es nicht….

Der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut sieht uns alle als fossilbrennstoffsüchtig im Stadium der Leugnung. Die Frage ist, wie man den kollektiven Entzug bewerkstelligen kann?Wenn wir die Augen bewusst öffnen, sehen wir, dass vieles von dem, was getan werden müsste, eigentlich gar nicht so neu ist. Die Grundbausteine für den notwendigen Kurswechsel stehen seit langem bereit und warten nur darauf, endlich auf den Weg gebracht zu werden:

-       Eine konsequente Energiewende, weg von der fossilen (und atomaren) hin zur solaren Energieversorgung und zur effizienten Energienutzung,
-       eine Agrarwende, die mit der industriellen Massenproduktion bricht und den Weg zu einer ökologischen Land- und Ernährungswirtschaft bahnt,
-       die Überwindung der Unwirtlichkeit unserer Städte und Dörfer und der Zersiedelung der Landschaft und
-       eine Verkehrswende, weg von der Dominanz des fossilen Autoverkehrs hin zu Verkehrsvermeidung, -beruhigung und postfossiler Mobilitätsvielfalt.

Die zentrale Herausforderung

Wie können wir unsere Bedürfnisse befriedigen, wenn wir nach den Erkenntnissen der internationalen Klimawissenschaften und -politik in Deutschland bis zum Jahr 2050 mit etwa einem Zehntel des heutigen Verbrauchs an fossilen Energieträgern auskommen und auch mit allen anderen natürlichen Ressourcen pfleglicher umgehen müssen? Wie flexibel sind unsere Konsum- und Produktionsmuster hinsichtlich der durch sie verursachten Umweltinanspruchnahme?

Die Art der Bedürfnisbefriedigung ist keine Privatangelegenheit, in die sich die Politik nicht einmischen soll. Unsere Lebensstile und Konsumgewohnheiten werden längst politisch gesteuert.  Bedürfnisse lassen sich auf unterschiedliche Art und Weise befriedigen. Unterschiedlichen Bedarfsausprägungen entsprechen unterschiedliche Nutzungssysteme. Nutzungssysteme umfassen die Produktion beispielsweise von Autos oder Fahrrädern und die Bereitstellung der dazugehörigen Infrastrukturen. Die Einsparungen, die durch den Wechsel des Nutzungssystems (z.B. Fahrrad statt Auto) realisiert werden könnten, sind in der Regel um ein Vielfaches größer, als diejenigen, die durch technische Anpassungen innerhalb des Nutzungssystems erreicht werden können. Wer z.B. seine Brötchen statt mit dem Auto zu Fuß oder per Fahrrad besorgt, bewegt sich ungefähr um den Faktor 100 material- und energieeffizienter. Alternative Nutzungssysteme erfordern allerdings funktionierende und auch attraktive Infrastrukturen – und die sind das Ergebnis politischer Entscheidungen. Die Schwerpunktsetzung bei der Infrastrukturentwicklung fördert oder vernachlässigt bestimmte Nutzungssysteme und mit diesen verbundene Lebensstile. Die Schweiz investiert beispielsweise fünfmal so viel Geld pro Kopf der Bevölkerung in den Erhalt und den Ausbau ihrer Bahn. Der Unterschied ist beim Vergleich der Qualität, Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit der Bahnen in der Schweiz und Deutschland für uns schmerzlich zu spüren. In welchem Ausmaß wir die Nutzungssysteme zur Befriedigung unserer elementaren Bedürfnisse nach sicherer und behaglicher Behausung, nach Mobilität und nach Nahrung ändern müssen, zeigt exemplarisch der mit dem Klimaschutzziel der EU verbundene Handlungsbedarf.

Um das Klimaschutzziel der EU zu erreichen, das eine Begrenzung der durchschnittlichen Erderwärmung auf zwei Grad beinhaltet, müssen die Treibhausgasemissionen in Deutschland bis 2050 kontinuierlich auf dann maximal ca. 1,5 Tonnen CO2-Äquivalente pro Jahr und Person gesenkt werden. Ein Blick auf den durchschnittlichen „CO2-Fußabdruck“ des deutschen Bundesbürgers macht die Größenordnung dieser Herausforderung erschreckend deutlich:

Durchschnittlicher „CO2-Fußabdruck“ des deutschen Bundesbürgers in Tonnen CO2-Äquivalente pro Jahr (Stand 2005)
 

Wohnen

   Heizung
   Strom

2,72 t

   1,97 t
   0,75 t

Mobilität

   Auto
   ÖPNV
   Flug

2,52 t

<//span>   1,56 t
   0,11 t
   0,85 t

   Nahrung

   1,65 t

   Konsum

   2,75 t

   Allgemeinheit

   1,24 t

Insgesamt

10,88 t

Quelle: ifeu-Institut: Die CO2-Bilanz des Bürgers. UBA 2007
http://www.ifeu.org/energie/pdf/UBA_IFEU_CO2_Rechner.pdf

Die 2050 noch tolerierbaren Emissionen an Treibhausgasen in CO2-Äquivalenten pro Jahr und Einwohner von maximal 1,5 entsprechen etwa den Emissionen, die heute allein auf das Bedürfnisfeld Ernährung entfallen. In den Bedürfnisfeldern Wohnen und Mobilität liegen wir heute jeweils fast beim Doppelten dessen, was uns in 40 Jahren pro Kopf noch insgesamt zusteht. Drastisch formuliert: Wir werden uns 2050 für die Bedürfnisfelder Wohnen, Konsum, Allgemeinheit und Mobilität noch soviel an Treibhausgasemissionen leisten können, wie wir in dem existentiellen Bedürfnisfeld Ernährung bis dahin einsparen.

Die Konturen neuen, solar basierten industriell-gewerblichen Wirtschaftens werden bereits sichtbar. Im Bereich der erneuerbaren Energien ist unter der rot-grünen Bundesregierung gezeigt worden, dass mit entschlossenem und zielgerichtetem politischen Handeln die Weichen erfolgreich in Richtung auf ein nachhaltiges Wirtschaften gestellt werden können. In anderen Politikfeldern ist diese Aufgabe noch nicht oder erst ansatzweise in Angriff genommen worden. Erforderlich ist jedoch die vollständige Umwälzung der bisherigen ressourcen-, stoff- und raumverschlingenden industriellen und agrarischen Produktions-, Konsum- und Lebensweise.

Es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen Finanzblasen - die vom Streben nach ewigem Geldwachstums erst erzeugt werden und dann platzen - und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen: Finanzblasen kommen und gehen. Irreversible Schäden an Klima, Böden, Süßwasservorkommen oder Artenvielfalt bleiben und addieren sich. Sie beeinträchtigen unumkehrbar alle nachfolgenden Generationen. Dem profitgetriebenen Wachstum, das immer wieder durch das Platzen neuer und größerer Blasen unterbrochen wird, steht das dramatische Schrumpfen der natürlichen Ressourcen gegenüber – und das ist für die Realwirtschaft in Gegenwart und Zukunft viel bedeutsamer. Nicht nur die Ölvorräte schwinden besorgniserregend (Peak Oil), auch andere natürliche Ressourcen: Wälder, Böden, Bodenschätze, Süßwasserquellen, Fischbestände etc.

Was ist zu tun?

Im Kern geht es darum, der Politik den Primat des Handelns zurückzugeben, das Gemeinwohl zum Leitfaden gesellschaftspolitischer Prozesse zu machen, dem Markt politisch gewollte Ziele zu geben und Leitplanken für den Wettbewerb zu setzen. Die kostenlose private Aneignung natürlicher Gemeingüter wie Luft, Boden, Gewässer und Artenvielfalt muss aufhören, gestoppt werden. Grenzenloser Expansion wird die Konzentration auf regionale und kommunale Potenziale entgegen gesetzt. Die Leitbegriffe dafür sind: kurze Wege, Vernetzung und Kooperation.

Ein neuer Gestaltungsrahmen wird gebraucht. Die gesamte Daseinsvorsorge, Banken und zentrale Infrastrukturen wie Strom- und Gasnetze gehören in die öffentliche Hand. Die Finanzwirtschaft muss von ihrer beherrschenden auf eine dienende Funktion zurechtgestutzt werden. Geld darf nicht weiter als Machtmittel für seine Wachstum genannte Selbstvermehrung durch Renditevorgaben an die Realwirtschaft missbraucht werden. Langfristig sollen gesellschaftlich kontrolIierte Investitionsfonds darüber entscheiden, was wachsen oder weichen soll. Fernziel ist eine neue vom Wachstumszwang befreite Weltwirtschaftsordnung.

Bei der überfälligen Neugestaltung der Regeln des Welthandels gilt es, die Kosten der Umweltinanspruchnahme in die Preise einzubeziehen und verbindliche Standards im Wettbewerbsrecht festzuschreiben. Für Waren, die in internationalen Wertschöpfungsketten hergestellt werden, sind ökologische und soziale Mindeststandards verbindlich festzuschreiben, damit aus Wertschöpfungsketten nicht Schadschöpfungsketten werden – oder solche bleiben. Als Faustregel kann gelten, dass solche Standards umso besser eingehalten und überwacht werden können, je kürzer und räumlich dichter die Wertschöpfungskette ist. Der Apfel aus dem eigenen Garten ist an Transparenz nicht zu überbieten.

Wenn das Motto „global denken – lokal handeln“ wirklich greifen soll, dann muss ein neues Gleichgewicht zwischen globaler, europäischer und regionaler, lokaler Wirtschaft geschaffen werden. Ein sinnvoller Umbau wird nur gelingen, wenn die regionalen und lokalen Wirtschaftskreisläufe gestärkt und die Grundlagen für eine solidarische Ökonomie geschaffen werden, für ein selbstbestimmtes und individuell gestaltetes Leben in einer demokratischen Gesellschaft.

Dafür bedarf es einer Renaissance der Kommunalwirtschaft mit einer starken öffentlichen Daseinsvorsorge als Rückgrat. Es ist dafür zu sorgen, dass die Kernaufgaben der Kommunen und regionalen Gebietskörperschaften wieder erfüllt werden können, die unter dem Druck des neoliberalen Wandels unter die Räder geraten sind.

Vorzüge öffentlicher Güter und Dienstleistungen liegen darin, dass sie zu auskömmlichen Preisen Versorgungssicherheit gewährleisten, Beschäftigung sichern und soziale Ungleichheiten auf personeller und räumlicher Ebene eingrenzen. Hier ist daran zu erinnern, dass Eigentum sowohl aus- als auch einschließend wirken kann. Während Privateigentum die Möglichkeit bietet, Dritte davon auszuschließen, stehen öffentliche Güter und Dienstleistungen allen Bürgern offen. Sie wirken integrativ und egalisierend, weil Menschen sie nicht wie private Güter in Abhängigkeit von ihrer Kaufkraft als Konsumenten erwerben, sondern in Ausübung ihres politischen Rechts als Staatsbürger nutzen. Erhalt, Wiedererlangung und Ausbau kommunalen Eigentums ist ein wesentlicher Beitrag zu den Grundlagen einer gerechten Gesellschaft.

Die Kommunen sind wesentlich an Infrastrukturentscheidungen beteiligt. Eine nachhaltige Siedlungsentwicklung anstelle weiterer Zersiedelung verbunden mit der Schaffung klimafreundlicher Mobilitätsangebote – von der Förderung des ÖPNV bis zum Ausbau der Fahrradwege – liegt weitgehend in ihrer Verantwortung. Damit sich hier aber Entscheidendes tun kann, müssen die finanziellen Voraussetzungen geschaffen werden.

In Kommune und Region finden auch direkt und überschaubar die Auseinandersetzungen mit einer engagierten und vielfältigen Bürgerschaft statt, die sich kritisch in das politische Geschehen einmischt, ob und wie kommunale Entscheidungsprozesse wirklich ihren Anliegen entsprechen. Das zeigen zahlreiche lokalen Agenda21-Aktivitäten und Klimabündnisse.

Bürgerschaftliches Engagement heißt aber noch vieles mehr. Es schließt auch die Bereitschaft zu individuellen Veränderungen des Lebensstils ein. Wer sich beispielsweise Gedanken über seine Essgewohnheiten macht und an Empfehlungen der DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) orientiert neue Rezepte ausprobiert und das Angebot der Bioläden wahrnimmt, kann viel für den Klimaschutz tun.

Um die dringend erforderliche Wende in der Wirtschafts-, Finanz-, Agrar-, Siedlungs- und Verkehrspolitik durchzusetzen, bedarf es nicht nur eines politischen Wechsels, sondern gleichzeitig auch starken, gemeinwohlorientierten bürgerschaftlichen Engagements gegen den Widerstand egoistischer Lobbyinteressen. Dieser Aufgabe hat sich eine Vielzahl von Organisationen aus dem Umwelt- und Sozialbereich, haben sich die Gewerkschaften und Netzwerke wie Lobbycontrol, attac oder campactverschrieben. Die Zahl der Mitglieder dieser Nichtregierungsorganisationen und der Gewerkschaften übersteigt die Mitgliederzahl politischer Parteien erheblich. Dabei schließen sich das Engagement in einer Partei und einer Nichtregierungsorganisation oder einer Bürgerinitiative nicht aus, im Gegenteil. Nur durch vielfältigen Druck können gemeinwohlorientierte Entscheidungen gegen egoistische Lobbyinteressen und falsche Wege in Politik und staatlichem Handeln durchgesetzt werden.


Weitere umfangreiche Informationen zu konkreten Alternativen zum Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen sind in folgendem Buch zu finden:

Karl-Otto Henseling
Am Ende des fossilen Zeitalters
Alternativen zum Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen


280 Seiten, oekom verlag München, 2008ISBN-13: 978-3-86581-122-6

Aktuelle Stellungnahmen zu Themen wie der Abwrackprämie, Agrotreibstoffen (sog. „Biosprit“) oder Klimawandel und Ernährung sind auf der Internetseite www.karl-otto-henseling.de zu finden.