Leistungsdruck statt Selbstverwirklichung

 

Die Inhalte der Arbeit und die Formen, in denen sie erbracht wird, haben sich im Verlaufe der letzten 20 Jahre im Zuge des massiven Abbaus von industriell geprägten Arbeitsplätzen und der Ausweitung des Dienstleistungssektors gewandelt. Außerdem haben die Prinzipien des von den Finanzmärkten getriebenen Kapitalismus (Shareholder Value, höhere Renditeerwartungen als in der materiellen Produktion möglich) großen Einfluss auf die Bedingungen ausgeübt, unter denen die meisten Beschäftigten ihre Arbeit verrichten müssen.

Ein weiterer wesentlicher Grund für die qualitative Veränderung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbedingungen ist die Zertrümmerung des ehemaligen „Normal-Arbeitsverhältnisses“, das für die meisten Beschäftigten bis weit in die 80-iger Jahre des vorigen Jahrhunderts galt (unbefristete Anstellung, tariflich geregelte Arbeitszeit, Arbeitsentgelt, sonstige Bedingungen). Die gesetzlichen Regelungen in der Folge der „Agenda 2010“, initiiert durch die rot-grüne Bundesregierung (weiter entwickelt unter Schwarz-Rot), haben den Druck auf die große der Mehrheit der Bevölkerung zusätzlich erhöht (Ausweitung der Leiharbeit und der befristeten Beschäftigung, Verkürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld und anschließend HARTZ IV, Mini- und 1-Euro-Jobs, Durchlöcherung der ursprünglich paritätisch finanzierten Sozialsysteme zu Gunsten der Unternehmen und zu Lasten der Versicherten, usw.).

Es gibt sicher viele Gründe für die massive Erhöhung des Leistungsdrucks, unter dem heute die meisten Erwerbstätigen arbeiten müssen. Zwei halte ich für besonders gravierend:

Erstens
Die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes und damit der Grundlage der Existenzsicherung. Die große Zahl Erwerbsloser und Arbeitsuchender führt in vielen Fällen dazu, Arbeitsbedingungen und -anforderungen zu akzeptieren, die einerseits langfristig die Gesundheit gefährden und andererseits die Voraussetzungen für kollektive Gegenwehr verschlechtern. Die meisten Beschäftigten kennen aus eigener Erfahrung ehemalige Kolleginnen und Kollegen, Familienangehörige oder Bekannte, die arbeitslos wurden und auf die Rutschbahn in die Sackgasse HARTZ IV gerieten.

Viele Unternehmer (Vorgesetzte) nutzen diese Rahmenbedingungen aus, indem sie die Anforderungen an die Beschäftigten sowohl in Bezug auf die Schwierigkeiten der zu leistenden Arbeiten als auch in mengenmäßiger Hinsicht erhöhen. Wer kennt nicht jemanden, der (trotz Wirtschaftskrise) unbezahlte Überstunden leistet und Arbeit, die während der normalen Arbeitszeit nicht geschafft werden kann, abends zu Hause erledigt.

Zweitens
In den meisten Branchen der Wirtschaft sind die Arbeitsabläufe im Zusammenhang mit internen Rationalisierungsprozessen und Outsourcing umstrukturiert worden. „Einfache Arbeiten“ wurden ausgelagert oder von elektronischen Systemen übernommen. Den Beschäftigten wurden komplexere Aufgaben übertragen (Bedienung von Maschinensystemen, Bearbeitung von mehrstufigen Verwaltungsvorgängen, u.ä.). Damit ist in der Regel eine Erweiterung von Verantwortung für die Arbeitsergebnisse an die jeweiligen Beschäftigten verbunden. Dieser Verantwortung müssen sie - aus der Sicht der Vorgesetzten - gerecht werden. Gleichzeitig haben sie an sich selber auch den Anspruch, die übertragenen Aufgaben gut zu schaffen, weil eine gute Bewältigung der Aufgaben eine Bestätigung und Anerkennung ihrer Leistungsfähigkeit und Qualifikation ist.

Diese <//span>- an sich positiven - selbst gesetzten Ziele und Maßstäbe werden für die Unternehmen <//span>- in Verbindung mit der von ihnen immer wieder geschürten Sorge um den Arbeitsplatz - für die Beschäftigten immer wieder zum Bumerang, weil der eigene Wille zu noch mehr und noch höheren Leistungen ausgenutzt und nicht honoriert wird. Die häufig ausbleibende, respektvolle Bewertung und Anerkennung durch die Vorgesetzten, sei es in Form von Lob und Zuspruch, sei es in größerer Sicherheit des Arbeitsplatzes oder angemessener Bezahlung, führt in der Regel nicht zu einer größeren Widerständigkeit der Betroffenen, sondern häufig zu noch mehr erzwungenen Anpassungsprozessen.

Es soll Beschäftigte geben, die die größer gewordene Verantwortung am Arbeitsplatz als eine Art Selbständigkeit (miss-)verstehen und meinen, sich darin selbst verwirklichen zu können. Sie werden in der Regel dann mit der Wirklichkeit konfrontiert, wenn die Würdigung ihrer Leistungen durch das Unternehmen verweigert wird, wenn eine Aufstiegshoffnung enttäuscht wird oder wenn ihre Vorstellungen von der Art und Weise wie eine Aufgabe bewältigt werden kann, mit denjenigen der Vorgesetzten kollidiert, auch wenn sie besser ist.

Insbesondere dann, wenn der Arbeitsplatz in Gefahr gerät (Betriebsverlagerung oder -schließung, Abbau von Arbeitsplätzen, o.ä), wird überdeutlich, dass letztlich als grundlegende Gesetzmäßigkeit für den Arbeitsmarkt in der „freien Marktwirtschaft“ die Abhängigkeit der Sicherheit des Arbeitsplatzes vom Kapital gilt - trotz der Einschränkungen, die in Folge der Kämpfe der Gewerkschaften um mehr Sicherheit für die abhängig Beschäftigten (z.B. in Tarifverträgen oder durch Einflussnahme auf eine Ausweitung von gesetzlichen Mitbestimmungs- oder Arbeitsschutzrechten) erreicht wurden.

Ein weiteres Kapitel zu diesem Themenkomplex müsste heißen: Was ist dagegen zu tun? Hierzu folgt ein Artikel demnächst auf dieser Website.

Walter Mayer